Anita Tack, Rede zum 100. Geburtstag von Erwin Strittmatter in Spremberg am 18.08.2012
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich beginne mit einem Zitat, und bitte erschrecken Sie nicht, es ist unbotmäßig: „DIESER SCHEISS-GEBURTSTAG!“ In Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen. Aufgeschrieben im Tagebuch am 23. August 1962. Und davor steht, um die harsche Wortwahl zu begründen, ebenfalls in Großbuchstaben: „UND JEDEN TAG ZEHN DANKSCHREIBEN“.
Zum Verständnis der Aufwallung müssen wir ein bisschen zurückblättern: Am 13. August notiert Erwin Strittmatter: „GLÜCKWÜNSCHE zum 50. Geburtstag liefen schon in Dollgow und laufen in Berlin ein. In Berlin war schon der ganze Kasten voll. Was soll mir das.“ Und weiter: „Mir kommt es vor, als ob alle mit ihren Glückwünschen übertreiben.“
Und am 15. August: „In Schulzenhof, das wir am Abend endlich erreichen, wieder Telegramme, Blumen, Gratulationsmappen der Institutionen. […] Nun wird allen auf irgendeine Weise Dank gesagt werden müssen. Das wird mir viel Zeit kosten, die dem Roman entzogen werden müsste. Nein; das darf nicht sein. Man wird’s nachts tun müssen.“ Zehn Jahre später klingt alles deutlich weniger unduldsam. Der Tagebucheintrag stammt diesmal aber auch nicht vom Geburtstag selbst. Erst am 17. Oktober notiert der Jubilar rückblickend: „Mein 60. Geburtstag. Erst wollten wir flüchten. Dann merkten wir, dass sich die Gratulationen über die ganze Woche erstrecken würden. Wir blieben. Liessen es uns geschehen. […] Von morgens bis spät in die Nacht kamen die Gäste, kamen, gingen, blieben. Wir feierten an weiss gedeckten Tischen unter der Hofbirke. Kaukasische Bauernhochzeit. Neben den Kaninchenställen war’s den amtlich-offiziellen Gratulanten aus Berlin unmöglich, salbungsvolle Reden zu halten.“
Zu diesem 60. kam das schmale Bändchen „Die blaue Nachtigall oder Der Anfang von etwas“ heraus. Tagebucheintrag am 17. Oktober 1972 über eine Autogrammstunde mit dem nagelneuen Buch im Internationalen Buch in Berlin: „Die Leute warteten 1½ Stunden, bis sie zu ihrem Autogramm kamen. Ein gutes Gefühl: Man wird gebraucht.“ Oft hat Strittmatter solche Begeisterung von Leserinnen und Lesern. Tagebuch am 17. Mai 1964, Pfingstsonntag, Deutschlandtreffen in Berlin: „Großer Leseransturm. Signiere viele, viele BIENKOPPS. Zum Deutschlandtreffen gibt’s echte Bockwurst ohne Kunstdarm und BIENKOPPS. […] Es wären noch mehr zu verkaufen gewesen, wenn der stellv. Verlagsleiter nicht gestoppt hätte. Mittlerweile war’s 8h abends geworden.“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen sehr herzlich für die Einladung, hier bei Ihnen zum 100. Geburtstag von Erwin Strittmatter zu sprechen. Ich bin sehr, sehr gern gekommen. Denn es ist eine gute und wichtige Gelegenheit, sich eines Mannes zu erinnern, der ein bedeutender und – wie kaum einer sonst – ein Volksschriftsteller war. Es ist ganz gleich, wo man den Strittmatter aufschlägt, auf welche der vielen tausenden Seiten seiner millionenfach verkauften Bücher man trifft: Man kann es immer sofort vorlesen und wird sofort verstanden und hat ein Vergnügen daran. Eine Probe?
„In seiner Jugend wurde dem sorbischen Schneidergesellen die Niederlausitz zu eng, und er wanderte zur Bucht des Atlantischen Ozeans, ‚Nordsee’ genannt. In Hamburg hielt er Ausschau nach Glück, und das kam ihm aus Amerika in der Gestalt der Tochter seines Meisters Lühr entgegen, die den Großvater um zehn Lebensjahre überragte und ihm um drei Kinder voraus war. Die erwartete Liebesentzündung fand statt. Meine Großmutter der Feuerstein, mein Großvater der Zunder!“ – Das ist aus der kleinen Geschichte „Sulamith Mingedö, der Doktor und die Laus“, und zitiert habe ich sie hier aus der bb-Ausgabe des Büchleins „Meine Freundin Tina Babe“, erschienen im Aufbau Verlag 1983. Sofort ist man aufgefordert, in die eigene Familiengeschichte hineinzudenken. Jahrhundertgeschichte blitzt auf, und mit wie wenigen Worten ist da ein Bild von Liebe, Lust und Abenteuer. Nein, es ist kein Wunder, dass die Leute stundenlang nach einem Autogramm dessen anstanden, der so schreiben konnte. Und ich stand mit. Neugierig, erwartungsfroh, in sicherer Vorfreude auf ein Leseerlebnis, von dem zu zehren sein würde.
Genug aber des Literarischen. Denn natürlich können wir diesen 100. Geburtstag Erwin Strittmatters nicht begehen wie noch seinen 90. oder 95. Zu viel und zu Entscheidendes ist seither geschehen. Im Jahre 2008 hat Werner Liersch mit seinen Recherchen zu den Kriegsjahren Strittmatters etwas ins Rollen gebracht, was uns seither mit zunehmender Wucht dazu zwingt, gründlicher zu lesen, nachzudenken und Stellung zu beziehen. Anette Leo in ihrer gerade erschienenen Strittmatter-Biographie hat, unterstützt von einigen der Söhne des Schriftstellers, die Briefe öffentlich gemacht, in denen Strittmatter mit seinem eigenen Zeugnis keinen Zweifel daran lässt, dass er an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen ist: an „Vergeltungs“-Aktionen gegen die jugoslawische und griechische Zivilbevölkerung, also: an Massenerschießungen und am Zerstören und Niederbrennen ganzer Dörfer.
Und nun stehen wir alle vor der Entscheidung: Verbieten wir uns, dieses Mannes weiter zu gedenken und damit alles, was er seit seinem 34. Lebensjahr – also seit Ende des Krieges – getan hat, zu vergessen, oder nehmen wir die Herausforderung an, aufs Neue – und das heißt: gründlicher und umfassender als bisher – zu bedenken, wie viel Unerledigtes in der Erinnerung an das ungeheuerliche Verbrechen, dass der deutsche Faschismus und Nationalsozialismus darstellten, noch immer vor uns liegt.
Karim Saab von der Märkischen Allgemeinen Zeitung hat dazu einen interessanten Gedanken geäußert. Er mutmaßt, dass Strittmatter seine Briefe aus der Kriegszeit ja vielleicht gerade deswegen nicht vernichtet hat, weil er hoffte, dass sie irgendwann einmal gelesen werden würden. Die Tagebücher, deren erster Teil 1954-1973, herausgegeben von Almut Giesecke, ebenfalls gerade erschienen ist, machen jedenfalls deutlich, wie wichtig es Strittmatter gewesen ist, seine Gedanken zu Leben und Zeit und Alltag und Schriftstellerei künftigen Generationen weiter zu geben. Und darin – in diesen Tagebüchern – spiegelt sich auf beeindruckende Weise etwas, das mich ausdrücklich darin bestärkt hat, heute zu Ihnen zu kommen und mich auch künftighin sehr ernsthaft mit Strittmatter zu befassen. Und das ist seine für mich unzweifelhafte Bereitschaft, mit seinem Leben nach 1945 zu versuchen, aus der untilgbaren Schuld die Verpflichtung abzuleiten, Lehren zu ziehen und eine Wiederholung des Geschehenen nicht zuzulassen. Seine Bücher, die ein Millionenpublikum in der DDR und in vielen, vielen anderen Ländern der Welt fanden – und ausdrücklich auch im Osten Europas –, sind Plädoyer für ein friedliches, von Militarismus und Krieg verschont bleibendes Leben. Sie sind Ausdruck einer unermüdlichen Suche nach einem besseren Verständnis menschlichen Verhaltens und einer anrührenden Beziehung zur Natur. Und sie sind auch Zeugnisse einer quälenden Anstrengung, lebens- und liebes- und arbeitsfähig zu sein trotz des Traumas, das eigene Täterschaft wie die seinige lebenslang hinterlässt.
Und wenn ich vorhin sagte, dass mir mit Strittmatter die Gewaltigkeit des Berges an Unerledigtem in deutscher Erinnerung an das Verbrechen des Krieges und an die in ihm verübten Verbrechen aufs Neue bewusst geworden ist, dann meine ich damit auch, dass wir nichts gewännen, wenn wir jetzt den „Fall Strittmatter“ zum Instrument der eigenen und allgemeinen Reinwaschung machten.
Strittmatters Schweigen und Verdrängen war nicht das Schweigen und Verdrängen eines Einzelnen mitten in einem Meer von Beredsamkeit und individuellem Schuldeingeständnis, sondern es war das Schweigen in einem Meer von Schweigen. Dieses Meer war ein gesamtdeutsches. Die Gründe für das Schweigen waren unterschiedliche, aber im Resultat floss es zu einem einzigen großen Schweigen zusammen. Das, was Strittmatter erlebt hat, haben ungezählte andere auch erlebt. „Partisanenjagd“ und „Vergeltungs“-Aktionen waren schmutziger Kriegsalltag von vielen Zehntausenden. Ich versuche mir vorzustellen, welchen gesellschaftlichen Klimas es bedurft hätte, damit all diese Ungezählten klar und deutlich und in individueller Rechenschaft Zeugnis abgelegt hätten von ihrer persönlichen Schuld. Und ich versuche ein erneutes Mal in meinem Leben, mir die Umstände begreiflich zu machen, die eine Entstehung eben genau eines solchen gesellschaftlichen Klimas verunmöglicht haben. Schnelle Antworten verbieten sich.
Wie es sich auch verbietet, denke ich, die Dinge zu neuen Attacken gegen die verschwundene DDR zu nutzen. Was immer über die DDR zu sagen ist: An ihrer Spitze haben Menschen gestanden, die sich dem Krieg verweigert haben; Menschen, die, weil sie dies taten, Deutschland verlassen mussten oder dafür mit KZ, Zuchthaus und ständiger Bedrohung ihres Lebens zahlten. Anette Leo in ihrer Strittmatter-Biographie rückt auf leise, aber sehr eindringliche Weise wieder ins Blickfeld, was es für die aktiven antifaschistischen Widerstandskämpfer, die in Deutschland stets eine sehr kleine Minderheit waren, bedeutete, in der DDR mit den Millionen Mitläuferinnen und Mitläufern des Nazi-Regimes vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Sie deutet nie ausgeräumte Vorbehalte von alten Kommunisten gegenüber Menschen wie Strittmatter an. Und bringt damit nur eines von vielen, vielen Feldern der politischen und geistigen Auseinandersetzungen im geteilten Deutschland wieder in Erinnerung.
Sehr geehrte Damen und Herren, viel zu kurz ist die Zeit, die mir hier zur Verfügung steht, um die Dinge weiter zu vertiefen. Nur um Anregung kann es gehen, um weitere Vertiefung der Anregung, die wir nach dem seinerzeitigen Anstoß durch Werner Liersch vor allem drei Frauen verdanken: Almut Giesecke mit den Tagebüchern, Anette Leo mit der Biographie und Irmtraud Gutschke mit ihrem in langen Gesprächen entstandenen Porträt von Eva Strittmatter. Wir sind durch diese Bücher in die Lage gebracht, auf neue Weise uns hineinzudenken in das Werk und das Leben des bedeutenden Schriftstellers Erwin Strittmatter. Wer Strittmatter auf einem Sockel hatte, kann ihn jetzt herunterreißen. Wer ihn dort nicht hatte, auf einem Sockel, sondern ganz in seiner Nähe als Mitsuchenden, Mitstreitenden, in den Wirren des Jahrhunderts sich zurechtfinden Wollenden, der sollte ihn dort behalten. In dieser Nähe. Den Schriftsteller und Menschen Erwin Strittmatter. Und weiter lernen.
Ich habe meinen Sommer mit den Tagebüchern verbracht. Am 6. August 1963 ist Strittmatter in Leningrad. Er ist Mitglied einer Schriftstellerdelegation. Er notiert zum Besuch auf dem Friedhof für die Toten der Blockade: „Ich schreibe ins Gästebuch: ‚Was in unserer Kraft steht, werden wir tun, dass kein Krieg wieder von Deutschland her nach Leningrad dringe.’“ Und diesem Eintrag gemäß hat er gehandelt, die ganzen fast fünfzig Jahre seines Nachkriegslebens lang. Alle seine Bücher sind Sehnsucht nach Frieden. Nirgends auch nur die Spur eines Ja zu neuem Krieg. Das ist viel, sehr viel. Auch für das Heute, wo viele für richtig halten, dass Deutschland wieder in Kriegen ist. Die Tagebücher sind ein reicher Quell des Nachdenkens über den Lebensweg eines Menschen, und sie sind ein reicher Quell des Nachdenkens über die DDR. Aufschwung und Scheitern, die Auseinandersetzungen um seine Bücher, die Resignation in den Jahren der Erstarrung der Gesellschaft – all das wird hier wieder sichtbar, und nirgends ist es mit einem einfachen Gut-Böse-Schema getan. Wir haben die Chance, an das Erzählen Strittmatters – und ich schließe hier die Kriegszeit-Briefe ausdrücklich ein – unser eigenes Erzählen und das unserer Eltern und Großeltern anzufügen.
Wie es ist mit öffentlicher Wortmeldung, wenn alles Gesagte sofort in die Schemata politischen Kampfes gepresst und entsprechend ausgebeutet wird, hat Strittmatter oft erlebt. Tagebucheintrag 5. bis 7. Februar 1964, als die Debatten um seinen Ole Bienkopp hohe Wellen schlagen: „Oh, man muss schon einen breiten Buckel haben! In den Westzeitungen nennen sie mich einen Parteischreiber und Nichtskönner, in unserer parteiamtlichen BAUERNZEITUNG nennen sie mich einen Parteifeind und Lügner.“
Sehr geehrte Damen und Herren, Erinnerung an Erwin Strittmatter geht nicht ohne Erinnerung an seine große Liebe Eva. Legt man das dichterische Werk beider nebeneinander, ist es die Bilanz eines Paares, die ihresgleichen in der deutschen Literaturgeschichte nicht hat. Die Widersprüchlichkeit des Lebens von Erwin Strittmatter wird durch die Beziehung zur achtzehn Jahre jüngeren – und damit von aller Kriegsschuld freien, den Neuanfang in der DDR aufs für ihn Allerschönste verkörpernd – nicht kleiner. Im Gegenteil: Sie hat ihm wohl einfach durch ihr Dasein das Verdrängen leichter gemacht. Und nun wir, heute? Lassen Sie uns zum Beispiel, wenn uns das Fernsehen im Winter wieder das slowenische Biathlon-Paradies Pokljuka in die Wohnzimmer holt, innehalten. Denn Pokljuka ist ein Ort, an dem deutsche Polizeieinheiten, zu denen auch der später erfolgreiche Schriftsteller Erwin Strittmatter gehörte, 1942 Jagd auf jugoslawische Partisanen gemacht haben. Und wenn die Rede über Griechenland geht – vielleicht holen wir mit aller Kraft ins Bewusstsein, wie sehr auch dieses Land unter deutscher Besatzung zu leiden hatte? Und dass dies alles erst ein Menschenleben zurück liegt? Auch das hat mit Erinnerung an Erwin Strittmatter zu tun. Heute, an seinem 100. Geburtstag.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.